Die Fotoserie „Ausrangiert“ ist der Versuch einen Trauerprozess darzustellen. In der Form ist sie angelehnt an den klassischen Aufbau einer Trauerrede. Zu Beginn äußert der Redner auf einer Trauerfeier sein Bedauern über das Ableben des Betrauerten. Im Falle eines unvorhergesehenen, abrupten Todes, bspw. durch einen Unfall oder Suizid, kommen Schock und auch Unfassbarkeit über den plötzlichen Verlust der geliebten, viel zu früh verstorbenen Person zum Ausdruck.
Im Hauptteil wird ein letztes Mal kollektiv erinnert an den Menschen, mit seinen Eigenheiten und Hobbys, außerdem an positive Erlebnisse mit der Person. Der Redner erzählt Anekdoten und Geschichten und ruft Erinnerungen wach, die teilweise verblasst und oftmals wohlwollend verschleiert oder gar lückenhaft sind.
Kommt der Trauerredner zum Ende seines Vortrags, entlässt er die Trauernden mit warmen, trostspendenden Worten in die Zukunft.
Für mich als Fotografin stellt die Serie den ganz persönlichen Umgang mit der wohl schrecklichsten Erfahrung in meinem Leben dar.
9.4.2019. Tag X. Bilder, die sich für immer auf meiner Seele eingebrannt haben. Bilder, die ich noch nicht einmal in Filmen ertragen kann. Bilder, die ich nie wieder vergessen werde. In einem Film wäre die Szene mit dramatischer Musik untermalt gewesen. In der Realität war da ein lautes Rauschen in meinem Kopf. Ein Rauschen, das die Welt um mich herum komplett übertönte. Die Tage danach blieb nichts als eine ohrenbetäubende Stille. Ein Zustand des Schocks und blanken Entsetzens. Zeitpunkt des Todes: Vermutlich in der Nacht vom 6. auf den 7. April. Todesursache: Suizid durch Erhängen. Es wurde kein Abschiedsbrief hinterlassen. Fund der Leiche: 9. April 2019 gegen 22 Uhr. Fundort: Nur eine Wand von meiner heilen, harmonischen Welt getrennt. Aufstehen, Bilder im Kopf, schlafen, Albträume, Bilder im Kopf, Aufstehen... Mit der Zeit wird es besser. Die Fragen, nach dem „Warum“ und dem „Hätte man das irgendwie verhindern können“ beschäftigen mich lange und treten dennoch langsam in den Hintergrund. Auf die Schockstarre folgt tiefes Bedauern darüber, dass ein Mensch in einem Haus voller Menschen so unendlich einsam gewesen sein muss. Ich arrangiere mich mit der unabänderlichen Situation, stelle mir vor, dass er seinen Frieden gefunden hat und versuche für mich einen Abschluss zu finden, weiß aber insgeheim, dass es Zeit brauchen wird. Also gilt es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich versuche mich an positive Dinge zu erinnern. Erinnerungen, die teils nur noch blass und schemenhaft sind.
Ich freue mich an seinem liebevoll gepflegten Kräuterbeet auf unserer Dachterrasse. Das einzige Vermächtnis. Und über die Frühlingsluft und die Sonne. Ich schätze, dass Familie und Freundschaft mein eigenes Leben bereichern. Die Spuren, die daran erinnern, dass er gelebt hat, sind hier noch immer präsent und dennoch für den Außenstehenden nicht mehr sichtbar. Es ist eine augenscheinliche und doch fragile Normalität eingekehrt. Im Haus geht alles seinen gewohnten Gang. Was im Alltag keinen Platz mehr hat, wird ausrangiert. Neue Mieter leben in der Wohnung, in der es lange Zeit totenstill gewesen ist. Kindergeschrei tönt durch die dünnen Wände des Altbaus. Neustart mit anderen Augen und immer öfter begleitet von den wiederkehrenden Gefühlen der Unbeschwertheit. Ungewohnt gewöhnlich. 

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